Samstag, 7. Januar 2012

Der Comic wird erwachsen

Comics, die sind doch Kinderkram, hört man gar nicht so selten. Mickey Maus, Donald Duck, Asterix und Obelix, Superman oder Spiderman, wir kennen sie alle aus unserer Kinder- und Teenagerzeit.
Gerade hier in Deutschland werden Comics, dieses Medium der Bild- und Erzählkunst, gerne noch belächelt, handelte es sich doch bisher um einen stark abgegrenzten Nischenmarkt innerhalb des großen Büchermarktes. Abgegrenzt in unseren Köpfen und abgegrenzt in einer der hinteren Regalreihen des Buchhandels.
Ganz anders übrigens in unseren Nachbarländern, wie Frankreich, Belgien, Italien und Spanien oder, wenn wir über den großen Teich blicken, Länder, wie den USA oder Japan. Dort sind Comics aus der jeweilgen Kultur des Landes seit vielen Jahrzehnten gar nicht mehr wegzudenken, demnach auch um einiges angesehener und besser vermarktet.
Als Mitte der 90er Jahre sogenannte Anime, japanische Zeichentrickserien wie Dragon Ball oder Sailormoon, erstmals auf deutschen TV-Kanälen ausgestrahlt wurden, rüttelten diese auch den deutschen Comicmarkt ordentlich auf.
Wie man bei Carlsen Comics weiß, weckte das Interesse an Anime auch das Interesse an den Mangaserien, auf denen die Zeichentrickserien beruhten. Sogar eine eigene deutsche Mangaproduktion entstand. Mangaserien aus Deutschland, wie z.B. die Serie Gothic Sports (erschienen bei Tokyopop) von der Zeichnerin und Autorin Anike Hage, wurden bis in die USA veröffentlicht.
Von 1997 bis 2007 stieg der jährliche Umsatz von Manga in Deutschland von rund zwei Millionen Euro auf mehr als 62 Millionen Euro an. Was stattliche 75% des gesamten Umsatzes des deutschen Comicmarktes darstellt.
Dennoch, für ein großes Industrieland wie Deutschland, ist der heimische Comicmarkt noch immer ein Winzling.
Bekannte japanische Mangaserien verkaufen sich heute nach wie vor sehr gut, westliche Comics schon um einiges schlechter. Manch hiesiger Comicautor kann einen Erfolg verbuchen, wenn sich sein Werk in 3-stelligen Zahlen verkaufen kann.
Doch nun macht sich ein neuer Aufwind auf dem deutschen und internationalen Comicmarkt bemerkbar, der diesmal nicht aus Japan sondern aus den USA aufzieht.
Im November letzten Jahres rief das ARD Kulturmagazin Aspekte medienwirksam aus: Der Comic ist erwachsen geworden . Ein neuer Boom hat den Comicmarkt ergriffen, der verspricht, eine größere Zielgruppe denn je zu erreichen und zu begeistern: 
Die Graphic Novel!

Roman/Novelle oder Comic? Oder vielleicht beides?
Bildquelle: http://www.avtramp.se




Was ist eigentlich eine Graphic Novel?

Um eines vorwegzunehmen: eine allgemeingültige und festgeschriebene Defintion gibt es de facto nicht. Auch Ralph Keiser, Programmleiter von Carlsen Comics, kann das nur bestätigen. (siehe Interview mit Ralph Keiser)
Tatsächlich kommen bei der Frage, was eine Graphic Novel genaugenommen ist, selbst alte Hasen der Branche erst einmal ins Grübeln und danach sogar zu reichlich Diskussionsstoff. Denn, wie später noch beschrieben werden soll, kommt auch die Graphic Novel nicht ohne ihre eigene Kontroverse aus.
Ironischerweise gab selbst der Erfinder der Graphic Novel, der amerikanische Comickünstler Will Eisner (über den später ebenfalls noch berichtet werden soll), einmal zu, der Begriff Graphic Novel wäre ein Spontaneinfall seinerseits gewesen, ohne dass dem große Überlegungen vorausgegangen waren. Als er einem Verleger sein neues Projekt vorstellte, wollte er diesen auf keinen Fall mit der schnöden Bezeichnung  Comic abschrecken.
Wenn man sich aber ganz vorsichtig einer Definition annähern will, kann man über die Eigenarten der Graphic Novel folgendes hervorheben:
Bei dem Medium handelt es sich um ein erzählerisches Werk, das dem Leser durch eine Sequenz von Illustrationen und Text vermittelt wird. Für gewöhnlich kommt die Erzählung in einem Band zum Abschluss, spezielle Vorgaben zum Umfang gibt es nicht.
Soweit klingt das noch immer nach einem gewöhnlichen Comic. Doch im Infoflyer Was sind Graphic Novels? (auch zum Download als PDF angeboten), den eine Reihe von Verlagen gemeinschaftlich herausgegeben haben, wird, passenderweise in Comicform, erklärt, dass die in Graphic Novels behandelten Themen, sich, aufgrund ihrer anspruchsvolleren und ernsteren Natur, viel eher an Erwachsene, als an Kinder richten.
Themen, die die Weltöffentlichkeit aktuell bewegen, sind besonders beliebt, wie z.B. bei der Graphic Novel Die Wolke (erschienen bei Ravensburger).

Cover von Die Wolke
Bildquelle: http://www.buch.de

Sie basiert auf dem bereits 1987 erschienenen Jugendroman der Autorin Gudrun Pausewang und wurde 2008 von Anike Hage zeichnerisch umgesetzt. (siehe Interview mit Anike Hage)
Pausewangs Roman, der 1988 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, erzählt den fiktiven GAU in einem deutschen Kernkraftwerk und ist heute sicher aktueller denn je.
Man liegt wahrscheinlich gar nicht so falsch, wenn man sagt, dass es sich bei einer Graphic Novel um eine Art Bild- oder Comicroman handelt.
Die Webseite graphic-novel.info, die sich, nach eigenen Worten, ganz dem Aufklären durch Praxis verschrieben hat (indem über Neuigkeiten, Veranstaltungen, Rezensionen und Neuveröffentlichungen der Graphic Novel-Szene berichtet wird), wird außerdem hervorgehoben, dass sich die Graphic Novel nicht nur vom Inhalt her, sondern auch von der äußerlichen Aufmachung vom Comic unterscheidet, besser gesagt, sich unterscheiden will.
Äußerlich, so die Webseite, fügen sich viele der Titel problemlos in die Regale von Literaturbuchhandlungen ein, denn ihr Umfang, die einer Romanveröffentlichung ähnlichen Buchmaße und die oftmals aufwändige Aufmachung auf hochwertigem Papier in Klappenbroschur oder Hardcover würden auch diejenigen Leser ansprechen, die Comics bisher eher scheuten.

 Alles bloße Marketingstrategie?
Die Kontroverse um die Graphic Novel

Nun kann man sich durchaus fragen, ob diese Abgrenzung vom gewöhnlichen Comic tatsächlich gerechtfertigt ist und ob es sich bei dem Label Graphic Novel nicht viel eher um die aller neueste Verkaufsmasche handelt, den Comicmarkt wieder etwas in Schwung zu bringen. Denn ein Comic bleibt doch ein Comic, oder? Auch wenn die behandelten Themen nun vielleicht etwas kritischer sein mögen. Und Comicbücher gibt es doch auch schon ewig.
Das Ganze erinnert sehr an die Übernahme des Comicmarktes durch den Manga.
Die japanischen Comics schlugen im Westen ein wie eine Bombe und fanden viele Millionen treuer Fans. Wie bereits erwähnt, trimmten ab da auch viele westliche Zeichner ihre Comics auf Manga, viele Zeichentrickfilme aus den USA, Canada und Frankreich wurden als Anime getarnt. Nicht immer war das, was auf den Markt geworfen wurde, als qualitätvoll zu bezeichnen.
Die Produktion deutscher Manga hat mittlerweile stark abgenommen. Es hat sich herausgestellt, dass sie sich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, nicht für die Verlage rentieren. Der Käufer bzw. Nichtkäufer hat gesprochen.
Auch bei der Graphic Novel kann man, wenn man es böse ausdrücken möchte, eine gewisse Form der Ausschlachtung beobachten. So bringt  z.B. der amerikanische Verlag Bluewater Productions Graphic Novels gleich im Dutzend heraus, die die Biografien von Justin Bieber, Selena Gomez oder Taylor Lautner erzählen.

Kunst oder Kommerz?
Bildquelle: http://www.bsckids.com

Es ist sehr fraglich, ob die Lebens(abschnitts)läufe von US-Teeniestars dem angeblichen Anspruch der Graphic Novel gerecht werden. Nicht einmal mehr der Zeichner oder Autor wird auf dem Cover erwähnt...
Alan Moore, selbst Autor von so erfolgreichen Graphic Novels wie Watchmen oder V for Vendetta drückt seine Kritik folgendermaßen aus:

Es ist ein Marketingbegriff, mit dem ich nie sonderlich warm werden konnte.
Die Bezeichnung Comic" tut es genau so gut für mich... Das Problem ist, dass heute Graphic Novel gleichzusetzen ist mit: teures Comicbuch . Weil Graphic Novels einiges an Aufmerksamkeit bekamen, packen Leute wie DC-Comics oder Marvel jetzt 6 Ausgaben von irgendeinem wertlosen Mist, den sie gerade zufällig herausgebracht haben, unter ein schickes Cover und nennen es dann die She-Hulk-Graphic Novel...
(aus folgendem Interview)

Und wenn selbst Eisner, der Erfinder der Graphic Novel, zugibt, der Begriff wäre ein Spontaneinfall gewesen, um einen Verleger zu beeindrucken, dann muss tatsächlich die Frage erlaubt sein, ob nicht auch der Käufer durch einen Namen beeindruckt werden soll.
Vielleicht wirft eine genauere Betrachtung der Entstehung und Idee der Graphic Novel etwas mehr Licht auf die Sache?

Die Entstehungsgeschichte der Graphic Novel

Die Entstehung der Graphic Novel kann man in zwei großen Schritten und mit zwei großen Namen zusammenfassen.
Der erste Schritt vom Comic (der bis zu diesem Zeitpunkt traditionell nur in Zeitungen abgedruckt wurde) zum Comicbuch wurde 1842 unternommen, als in den USA The Adventures of Obadiah Oldbuck erschien. Es handelte sich um ein 40 seitiges, hardgebundes Buch in den Maßen 21,5cm x 21,9cm mit einer Sammlung von im Comicstil gezeichneten Kurzgeschichten.
Sie erzählten von Mr. Oldbuck, der, bevor er endlich seine Angebetete ehelichen konnte, die haarsträubensten Abenteuer erleben muss.
Von der panischen Flucht aus einem Kloster in Frauenkleidung, über waghalsige Klettertouren auf Häuserdächern, bis hin zu einer rasanten Kutschenverfolgungsjagd, muss sich die Geschichte selbst vor heutigen Comedy- und Abenteuergeschichten nicht verstecken.
Der Originaltitel des Comicbuches lautete allerdings Les amours de monsieur Vieux-Bois und war bereits 1827 vom Schweizer Rodolphe Töpffer gezeichnet worden.
1799 in Genf geboren und 1846 dort verstorben, war Töpffer als Lehrer in einer Knabenschule (später auch an der Genfer Akademie) tätig, zeichnete neben seiner Arbeit aber Karikaturen für Zeitungen und veröffentlichte einige (vor allem romantische) Novellen.
Töpffer wird als der Vater des modernen Comics angesehen, denn er war einer der ersten, der mit einer Reihe aufeinanderfolgender Panel (Einzelbilder) eine längere Handlung erzählte. Er experimentierte auch mit der Größe von Paneln um ein Gefühl von Zeit und Bewegung zu vermitteln.

Eine Seite aus Les amours de monsieur Vieux-Bois
Bildquelle: http://www.fr.wikipedia.org

Ursprüglich hatte Töpffer Les amours de monsieur Vieux-Bois und einige weitere Comicgeschichten nur zur eigenen Belustigung und der seiner Studenten gezeichnet. Sie waren also nie zur Veröffentlichung gedacht. Er sah im Medium Comic einen unterhaltsamen Zeitvertreib für Kinder und untere Klassen der Gesellschaft.
Erst durch das Drängen seiner Freunde, zu denen niemand geringerer als Johann Wolfgang von Goethe zählte, ließ er sich schließlich bewegen, der großen Masse seine Comics zugänglich zu machen.
Goethe hatte einmal voller Begeisterung über Töpffers Faust-Parodie Dr. Festus geschrieben:

Es ist wirklich zu toll! Es funkelt alles von Talent und Geist! 
Einige Blätter sind ganz unübertrefflich! Wenn er künftig einen weniger frivolen Gegenstand wählte und sich noch ein bißchen mehr zusammennähme, 
so würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären.

Die Veröffentlichung von Töpffers Werken erlebte Goethe jedoch nicht mehr.

Den Schritt vom Comicbuch zur ersten Graphic Novel schreibt man William Erwin Will Eisner zu.
Geboren 1917 in New York und verstorben im Januar 2005, war Eisner der Sohn einer jüdischen Immigranten-Familie, der es zu einem der erfolgreichsten und einflussreichsten Comickünstler aller Zeiten brachte.

Will Eisner bei der Arbeit
Bildquelle: http://www.washingtonpost.com

Zu seinen Ehren werden jährlich die Will Eisner Comic Industry Awards auf der San Diego Comic-Con (link) vergeben, der größten und bedeutendsten Messe ihrer Art. Die FAZ bezeichnete Eisner kürzlich als den wichtigsten Zeichner Amerikas und Google designte sein Logo am 06.03.2011, zu Ehren des 94. Jahrestags von Eisners Geburt, nach dem Logo seines Erfolgscomics The Spirit.
Eisner fing klein an, in dem er für die Schülerzeitung Cartoons zeichnete. Später studierte er an der Art Students League of New York und arbeitete danach für verschiedenste Zeitungen als Cartoonist.
Zum großen Durchbruch kam er 1940 mit seiner Comicserie The Spirit, die als Beilage in den Sonntagsausgaben von 20 Zeitungen beigelegt war und eine Auflage von über 5 Millionen Ausgaben erreichte.
Der Mystery-Detective-Thriller handelte vom eigentlich totgeglaubten Polizisten Denny Colt, der maskiert und unter dem titelgebenden Namen The Spirit gegen das Verbrechen kämpfte.
Die Serie kam zu großer Beliebtheit, da sie sich wegen ihrer grafischen und erzählerischen Qualität deutlich von anderen Publikationen dieser Zeit abhob.
Eisner lies sich stark von Filmen, speziell vom Film Noir beeinflussen, was sich an der experimentellen Gestaltung der Comicseiten mit starken Kontrasten, ungewöhnlichen Schnitten und Blickwinkeln ablesen lässt.
Nach einer Laufzeit von 12 Jahren wurde die Serie 1952 schließlich eingestellt, als Eisner schon längst nicht mehr selbst daran zeichnete oder schrieb und eigentlich nur noch als Supervisor für andere Zeichner und Autoren fungierte.
In der darauffolgenden Zeit war er vor allem für amerikanische Bundesbehörden als Zeichner von aufklärenden Comics tätig.
Erst in den späten 70er Jahren wandte sich Eisner erneut längeren Erzählungsformen zu, wollte sich jedoch von den seichten Superheldencomics abgrenzen, die mittlerweile den Markt dominierten.
Die Kinder, die mit Superheldencomics aufgewachsen waren, waren längst Erwachsene geworden und denen wollte Eisner nun schon etwas mehr bieten.
Daraufhin entstand A Contract with God, and Other Tenement Stories, das 1978 beim Verlag Baronet Books erschien.

Zum aller ersten Mal wurde der Begriff
Graphic Novel auf einem Cover verwendet!
Bildquelle: http://www.en.wikipedia.org

A Contract with God führt den Leser in vier abgeschlossenen Geschichten in die von Immigranten bevölkerte Bronx der 30er Jahre. Jede der Geschichten wird aus dem Blickwinkel eines anderen Hauptcharakters erzählt. Eisner beschreibt einen einst tiefgläubigen Juden, der mit Gott bricht, nachdem der ihm seine kleine Tochter genommen hat; einen alkoholkranken Straßensänger, dem die Chance seines Lebens einfach so durch die Lappen geht; einem weithin verhassten Vermieter, dem Kindesmißbrauch unterstellt wird sowie ein junges Pärchen, in dem beide Partner jeweils nur auf das Geld des anderen aus sind.
In diesen Geschichten verarbeitet Eisner, der selbst in der Bronx gelebt hatte, teils seine eigene Jugend. Er spricht Themen wie bittere Lebensenttäuschung, Tod, Gewalt, Sex und Vorurteile an, so tiefgründig und ernsthaft, wie kaum zuvor in Comicform.
Man kann A Conract with God tatsächlich als halb-autobiografisches Werk bezeichnen, denn, wie Eisner erst 2001 im Vorwort einer Neuauflage erklärte, war er sich selbst die Inspiration für den alten Juden, der mit Gott bricht, nachdem er seine Tochter verliert. Was lange Zeit nicht an die Öffentlichkeit kam und wovon nur enge Freunde Eisners wussten: Auch er hatte eine Tochter, Alice, die in jungen Jahren an Leukemie gestorben war.
In einer Kombination von Text und Bildern war es Eisner gelungen so bewegende Geschichten und so lebendige Charaktere zu erschaffen, wie man es bis zu diesem Zeitpunkt nur Romanen zugetraut hätte.
Es ist sicher nicht übertrieben diese erste Graphic Novel als eine Evolution des Comics zu bezeichnen.

Anrührende Szene aus A Contract with God
Bildquelle: http://www.en.wikipedia.org

Und im Rückblick auf die zuvor angesprochene Kontroverse um die Graphic Novel (ob sie nun bloße Marketingstrategie ist oder nicht), kann man sich vielleicht darauf einigen, dass sie tatsächlich eine Strategie ist, um neue Käuferschichten zu gewinnen, aber auch, dass sie sich die Abgrenzung, nein, die Hervorhebung vom gewöhnlichen Comic durch ihre Geschichte und Leistung durchaus verdient hat. Gerade hier in Deutschland, wo der Comic nunmal noch immer einen eher zweifelhaften Ruf besitzt.

Grafik-Novelle/ Bildroman/ Comicroman
Die Graphic Novel in Deutschland

Graphic Novels gibt es in Deutschland eigentlich schon seit den 80er Jahren, weiß Ralph Keiser von Carlsen Comics zu berichten und sie kamen von Anfang an sehr gut beim Publikum an. (siehe Interview mit Ralph Keiser)
Nur der Bedeutung, der heute praktisch zur Marke gewordenen Bezeichnung, war man sich damals noch nicht bewusst.
Als 1980 A Contract with God in Deutschland unter dem Namen Ein Vertrag mit Gott vom Verlag Zweitausendeins (link) herausgegeben wurde, übersetzte man das Label Graphic Novel schlicht (aber treffend) Eine Geschichte in Bildern. Die Neuauflage von Carlsen Comics (link) aus dem Jahre 2010 setzt hingegen wieder ganz gezielt auf die originale Bezeichnung Graphic Novel.
Anfangs schien man sich hier noch etwas gegen den Anglizismus zu sträuben und jeder Verlag experimentierte mit einem anderen eingedeutschten Begriff, wie die Grafik Novelle, dem Bild- oder Comicroman.
Mittlerweile hat sich aber die feste Bezeichnung Graphic Novel verlagsübergreifend etabliert.  
Carlsen nahm sie (inklusive eigenem Logo) 2007 als festes Segment in sein Programm auf und der erste Titel dieses Segments sollte Autoroute du Soleil von Hervé Baruléa (link) sein.
Viele, selbst dem Medium Comic fremde Verlage, sind mittlerweile auf den Zug aufgesprungen und viele deutsche Zeichner und Autoren haben sich in der Graphic Novel versucht. Wie Ralph Keiser betont, mit Verkaufserfolg, selbst verglichen mit ausländischen Lizenstiteln.
Wer heute eine größere Buchhandlung besucht, wie z.B. die Mayersche Interbook in Trier, der wird mitunter überrascht sein, wie groß die Regalwand ist, in der Graphic Novels und ähnliche Comicformate präsentiert werden.
Vor wenigen Jahren war es deutschlandweit noch üblich, dass sie einfach zwischen Comics und Manga ins Regal gemischt waren. Erst wurden sie immer zahlreicher, mittlerweile haben sie endlich ihren seperaten Platz erhalten.

Die Graphic Novel hat im 1. Obergeschoss, getrennt vom
Comic und gleich bei den Romanen, ihre eigene Regalwand erhalten.
Bildquelle: Eigenes Bild mit Erlaubnis von Mayersche Interbook


Die Zukunftsaussichten der Graphic Novel

Es sieht also, selbst bei kritischer Betrachtungsweise, recht vielversprechend aus für die Graphic Novel und den sich dank ihr im Aufwind befindlichen Comicmarkt.
Nie zuvor zeigten sich auch andere Medien so für den Comic interessiert, haben ihn so ernst genommen und als die Kunstform anerkannt, die er tatsächlich ist.
Der Feuilleton überschlägt sich förmlich mit Lob und immer neuer und umfangreicherer Berichterstattung. Die Süddeutsche Zeitung legte bereits ihre zweite eigene Edition von Graphic Novels nach. (siehe Interview mit Uwe Lochmann).
Nie zuvor war das potentielle Publikum des Comics so groß und könnte sogar noch größer sein, wenn noch mehr Informationsarbeit geleistet würde.
Noch gibt es sicher so einige Bücherwürmer, die ins Schulterzucken geraten, wenn sie mit dem Begriff Graphic Novel konfrontiert werden. Aber was erwartet man auch von einem Medium, das gerade einmal zwei bis drei Jahre im öffentlichen Interesse steht?
Auf dem Markt, seien es Comics oder andere Produkte, hat sich stets gezeigt, dass sich Qualität letztendlich durchsetzt. Eine Qualität formaler und inhaltlicher Natur, für die die Graphic Novel praktisch mit ihrem Namen steht. Diese Qualität muss natürlich beibehalten werden, auch wenn die Versuchung scheinbar schon jetzt groß geworden ist, mit dem magischen Label Graphic Novel auch aller Hand weniger qualitativer Publikationen zu versehen.
Man kann nur gespannt abwarten, was die Zukunft bringt und ob Will Eisner recht behält, wenn er sagt:

Die Zukunft der Graphic Novels liegt in der
Relevanz der Themen und in der Innovation der Darstellung.“
(aus Comics & Sequential Art)

Und wer nun immer noch glaubt, Comics seien Kinderkram, dem sei zu guter Letzt dieses 2010 beim Knesebeck Verlag erschienene Werk ans Herz gelegt:

Interview mit Graphic Novel-Zeichnerin Anike Hage


Anike Hage
Bildquelle: http://www.seedquest.com


1) Hallo Frau Hage, können Sie sich kurz selbst vorstellen?


Ich bin Anike Hage und zeichne hauptberuflich Comics.

2) In Ihren eigenen Worten, was ist eine Graphic Novel?

Wenn ich etwas böser antworten darf, dann ist es der Versuch, jemandem, der sich selbst für zu gebildet hält, einen einfachen Comic unterzujubeln.
Wenn ich weniger böse antworten soll, ist es ein Comic, der eine erwachsene Zielgruppe anspricht, bzw. ernstere Themen behandelt.

3) Also wissen Sie um die Kontroverse: Graphic Novels = Comics in Buchform = bloße Marketingstragie?

Ja, ich hörte davon! Ich empfinde es übrigens auch als Marketingstrategie.
Andererseits ist es ja auch ganz schön, Comics mal in schön gebundener, etwas edlerer Aufmachung im Regal stehen zu haben. Dafür würde aber auch eine Sonderedition reichen.

4) Lesen Sie selbst Graphic Novels?

Nicht bewusst. Mir ist sicher schon die ein oder andere Graphic Novel durch die Finger gegangen, aber wirklich viele besitze ich nicht.

5) Wie kam es zu der Entscheidung die Graphic Novel Die Wolke zu zeichnen?

Ravensburger hatte damals eine Reihe Jugendbücher, die man gerne auch in gezeichneter Form anbieten wollte.
Ich bekam daraufhin eine Anfrage und da ich das Thema sehr spannend fand, habe ich mich an die Arbeit gemacht! (:

6) Ganz knapp, worum geht es in der Erzählung?

Es geht um einen GAU in einem deutschen Kernkraftwerk und dessen Folgen, die aus der Sicht eines Teenager-Mädchens erzählt werden. Von der Flucht vor der Giftwolke bis zur späteren Strahlenkrankheit wird dabei alles thematisiert.

7) Waren Sie anfangs einwenig eingeschüchtert vom gesellschaftskritischen und brisanten Thema?

Nein, eigentlich nicht. Das Thema war ja schon immer brisant und da ich auf einem Endlager wohne (Wolfenbüttel), war die Beschäftigung mit der Sache auch nicht unbedingt neu.

8) Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit Gudrun Pausewang, der Autorin von Die Wolke vorstellen?

Ich habe nicht direkt mit ihr zusammen gearbeitet, sondern hatte nur die Aufgabe, das Buch zeichnerisch umzusetzen. Dazu hatte ich eine Redakteurin an der Seite, mit der ich mich ausgetauscht habe.

9) Inwiefern unterschied sich das Zeichnen einer Graphic Novel vom Zeichnen eines Manga/Comics?

Ich denke, wenn man z.B. Cartoons/Comic Strips gezeichnet hat und dann eine Graphic Novel machen sollte, wäre es ggf. ein Unterschied. Ich musste mich allerdings in diesem Fall nicht umstellen, von daher hat sich auch nichts unterschieden.

10) Wie sehen Sie die Erfolgschancen der Graphic Novel auf dem deutschen Markt?

Die sehe ich durchaus als gut an! Gerade weil sich die Zielgruppe durch Graphic Novels etwas erweitert und Comics allgemein gute Zahlen schreiben, sehe ich da eine interessante Zukunft.

(Das Interview wurde geführt von Marco Paal)
Interview mit Carlsen Comics-Programmleiter Ralph Keiser




1) Herr Keiser, können Sie sich kurz selbst vorstellen?

Ich bin Ralph Keiser Programmleiter von Carlsen Comics.

2) In Ihren eigenen Worten, was ist eigentlich eine Graphic Novel?

Ein Comicroman, also eine längere Comicgeschichte, die sich nicht nach festen Seitenvorgaben richtet, die einen gewissen Anspruch hat und keine Genre-Geschichten wie SF oder Fantasy enthält. Das ist unsere spezielle Carlsen-Definition. Eine allgemeine gibts nicht.

3) Haben Sie von folgender Kontroverse gehört:
Graphic Novels = Comics in Buchform = bloße Marketingstrategie?


Habe ich. Halte ich für vollkommen sinnlos und  - Verzeihung-  akademisch. Natürlich sind Graphic Novels Comics, aber sie sind eben anders als die weit verbreiteten Alben oder die amerikanischen Heftchen. Von daher dient ein besonderer Begriff nicht nur dem Marketing (sicher auch), sondern ebenso der Abgrenzung und der Klarheit für den Kunden.

4) Wann und warum hat sich Carlsen entschieden, die ersten Graphic Novels in das Programm aufzunehmen?

Also Comics, die man heute als GN bezeichnen könnte, hat Carlsen seit den 80ern gemacht, insofern lässt sich kein genaues Datum festlegen. Wir haben wirklich gemerkt, dass es offensichtlich ein größeres Publikum für anspruchsvolle Comicgeschichten gibt, als der erste Band der Serie Berlin von Jason Lutes (link) nach seiner Veröffentlichung 2003 begeistert aufgenommen wurde und sich sehr gut verkauft hat. Aber es hat noch bis 2007 gedauert, bis wir das Segment GN in unserem Programm aus der Taufe gehoben und mit einem eigenen Logo versehen haben. Der erste Titel, der das trug, war Autoroute du Soleil (link).

5) Wie nahm der deutsche Markt Graphic Novels auf?

Sehr gut. Wobei erst die sehr gute Aufnahme in den Medien kam, danach zog der Markt nach.

 6) Wie schlagen sich Graphic Novels auf dem Markt im Vergleich zu Comics und Manga?

Das ist nur schwer genau zu beziffern, weil es keine allgemein anerkannte Warengruppe GN gibt. Natürlich ist der Mangamarkt immer noch um ein Vielfaches größer als der GN-Markt. Auch der Markt der herkömmlichen Comics ist sicher sehr viel größer, aber die GN wachsen derzeit am stärksten und sicher am dynamischsten.

 7) Graphic Novels werden heute in größeren Buchhandlungen vom Comic- und Mangaregal getrennt präsentiert.
Entscheidet sich der Buchhandel selbst zu dieser Präsentation oder haben die Verlage da ein Wörtchen mitzureden?


Als Verlag können wir nur Anregungen für Platzierungen geben. Die Entscheidung liegt beim Handel selbst.

8) Gab/gibt es Bestrebungen, Eigenproduktionen herauszugeben oder spezialisiert sich der Verlag eher auf das Übersetzen von Produktionen aus dem Ausland?

Wir haben eine ganze Reihe von Eigenproduktionen in unseren GN, einige davon gehören zu den erfolgreichsten Titeln überhaupt, wie z.B. Cash - I see a darkness von Reinhard Kleist (link) oder Faust von Flix (link). Daneben haben wir natürlich auch Lizenzausgaben. Wir wollen stets die besten Titel bieten, egal, woher sie kommen. An der Förderung eigener Autoren sind wir aber besonders interessiert.

9) Wie sehen Sie die Zukunftschancen der Graphic Novel?

Sehr gut. Wir versuchen, ein immer größeres Publikum zu begeistern. Im Gegensatz zu sehr speziellen Genres wie den Superhelden oder Fantasycomics haben die GN die Chance, ein wirklich breites Publikum zu erobern. Daran arbeiten wir, auch wenn das noch eine ganze Weile dauern mag.

10) Eine letzte Frage (eigentlich sogar zwei):
Lesen Sie selbst privat auch Graphic Novels? Und haben Sie da eine Empfehlung?


Ja, tue ich. Zwei Titel, die ich in letzter Zeit wirklich sehr gerne gelesen habe, sind Die drei Musketiere von Carlsen (link) und Die drei Schatten von Reprodukt (link). Wobei die Dopplung der Zahl drei hier nur Zufall ist.

(Das Interview wurde geführt von Marco Paal)
Interview mit Sammlerecke-Buchhändler Uwe Lochmann



1) Herr Lochmann, können Sie sich kurz selbst vorstellen?

Uwe Lochmann, 46 J., gelernter Buchhändler
Seit 1991 angestellt bei der Sammlerecke Comics & Romane, dem größten Comicladen in Deutschland.

2) In Ihren eigenen Worten, was ist eigentlich eine Graphic Novel?

Es gibt keinen direkten Unterschied zum Comicalbum.
Unterschied ist, dass das Format meist in + - Din A 5 gehalten und
die Geschichte abgeschlossen ist und dass es meist als Hardcover gebunden ist.
Umfasst jedoch auch alle Genres von Horror über Action, Abenteuer bis hin zur
Fantasy und zu gesellschaftskritischen Geschichten.

3) Haben Sie von folgender Kontroverse gehört:
Graphic Novels = Comics in Buchform = bloße Marketingstrategie?

Der Grundgedanke war sicher über das Format und die abgeschlossene Geschichte
ein Buch in der Hand zu produzieren, welches sich besser im Sortimentsbuchhandel
unterbringen lässt.

4) Wie lange, würden Sie sagen, ist die Graphic Novel schon ein Thema auf dem deutschen Büchermarkt?

Ich habe hier vor ca. 5 Jahren zum ersten Mal den Begriff  "Graphic Novel" aufgeschnappt. Richtig thematisiert wurde es dann erst vor zwei bis drei Jahren.

5) Graphic Novels werden heute in größeren Buchhandlungen vom Comic- und Mangaregal getrennt präsentiert. Können sie mir über diese Platzierung/Präsentation etwas genaueres erzählen?

Ich denke, da sich der Begriff GN vom klassischen Comic absetzten möchte, macht auch eine räumliche Trennung Sinn.
Der geneigte literarisch Interessierte soll so wohl auf das "Schmuddelkind" Comic, getarnt in einem edleren Mäntelchen, aufmerksam gemacht werden.
Zeigt auch die Bemühung von Verlagen sowohl eine Alben- als auch eine Buchvariante zu veröffentlichen.

6) Wie schlagen sich Graphic Novels auf dem Markt im Vergleich zu Comics und Manga?

Allein durch den höheren Preis, bedingt durch die bessere Aufmachung und den kleineren Stückzahlen, ist das Publikum schon auf ein finanzkräftigeres beschränkt...
Der klassische Comickunde muss oftmals den Euro ein paar mal umdrehen, bis er ihn ausgibt.

7) Wie ist das Echo der Presse auf das Medium?

Durch GN landet der Comic nun auch im Feuilleton. Besprechungen in FAZ und im Spiegel sind keine Seltenheit und die Süddeutsche Zeitung präsentiert bereits die zweite Staffel mit 10 Bänden aus der Welt des graphischen Romans. 

8) Denken Sie, dass noch viel Informationsarbeit zur Graphic Novel betrieben werden muss?

Ich denke, dass die Medien schon einen Fokus darauf haben.
Wenn der Gedanke, dass Comics kein Schund sind sondern für das anerkannt werden, was sie sind -KUNST-, nicht mehr in den Köpfen grassiert, ist der Weg frei für französische Verhältnisse.
In Deutschland freuen sich Verleger bereits über eine Auflage von 10.000 Stück...in Frankreich sind Start-Auflagen von 300.000 Stück keine Seltenheit.

9) Wie sehen Sie die Zukunftschancen der Graphic Novel?

Es ist sicher ein Markt für GN da. Wenn mehr Leser darauf stoßen und sehen, dass man auch mit Bildern eine fantastische Geschichte erzählen kann, wird es auch für die Verlage rentabel.

10) Eine letzte Frage (eigentlich sogar zwei):
Lesen Sie selbst privat auch Graphic Novels? Und haben Sie da eine Empfehlung?

Neben den Serien, die ich schätze und verfolge, lese ich allein berufsbedingt noch drei bis fünf Novitäten, von denen ich monatlich drei für ein Kulturjournal und für unsere Comic Tipps auf www.sammlerecke.de rezensiere. Wobei ich nur Comics vorstelle, die mir persönlich gefallen und die ich somit weiterempfehlen kann.
An GN haben mir in letzter Zeit sehr gut gefallen:

Die Reise mit Bill von Mathias Schultheiss (erschienen beim Splitter Verlag)

Ganz Allein von Cabouté (erschienen bei Carlsen)

Vertraute Fremde von Jiro Taniguchi (erschienen bei Süddeutsche Zeitung Bibliothek)

Haarmann von Isabel Kreitz (erschienen bei Carlsen)

Persepolis von Marjane Satrapi (erschienen bei Edition Moderne)

Blankets von Craig Thompson (erschienen bei Carlsen)

(Das Interview wurde geführt von Marco Paal)